New York – „das Mekka des Fußballs in gewisser Weise”

New York hat alles außer Platz. Deshalb haben die Leute in der Stadt früh angefangen, in die Höhe zu bauen anstatt in die Breite, und deshalb steht Keith Miller jetzt auf einem ehemaligen Schiffsanleger am Hudson River, südwestliches Manhattan. „Wenn jemand in New York ein bisschen Land hat, baut er sicher keine Fußballfelder. Wir müssen kreativ sein. Wir müssen Fußball auf dem Dach eines Parkhauses spielen“, sagt er. Oder eben hier, auf Pier 40.
Zwei Fußballplätze aus Kunstrasen sind jeweils in drei Drittel zerlegt. Macht sechs Kleinfelder. Auf jedem der Felder findet ein Spiel statt, sieben gegen sieben. Mannschaften in roten, grünen und pinken T-Shirts. Die Teams haben Fantasienamen. „Win or Booze“ heißt eine, übersetzt ungefähr: Siegen oder Saufen.
Die meisten Spieler sind Mitte, Ende 20, einige Frauen spielen mit. Man hört Füße, die gegen Bälle treten, man hört Rufe der Spieler, irgendwo prallt ein Ball gegen den Pfosten. Ein herrliches Gewusel vor einer Kulisse, die beeindruckt, wenn man sie nicht gewohnt ist.
Denn wenn Fußballer von Kulisse sprechen, meinen sie die Atmosphäre im Stadion. Die donnernden Anfeuerungen der Dortmunder Südtribüne, die mächtigen Gesänge an der Anfield Road in Liverpool, der Höllenlärm im Ali-Sami-Yen-Stadion von Galatasaray in Istanbul.
Am Pier 40 gibt es keine Zuschauer, außer Fußballern, die auf ihren Einsatz warten, und einem Reporter from Germany. Kulisse, das ist wörtlich gemeint in diesem Fall: Steht man am einen Ende der Kleinfelder, sieht man das Empire State Building in Manhattan, steht man am anderen Ende, sieht man den Freedom Tower, der an der Stelle des alten World Trade Center errichtet wurde. Keith Miller erzählt, dass er am Abend des 10. September 2001 hier gewesen sei. Er habe auf die Twin Towers geschaut. Am nächsten Tag, am 11. September, waren sie weg.

„Auf jeden Fall eine Fußballstadt": Keith Miller, Gründer von "Metrosoccer NY".
Quelle: Hendrik Buchheister
Miller ist Gründer von Metrosoccer NY, eines Unternehmens, das Spiele für Freizeitfußballer in New York organisiert. Es gibt mehrere Ligen für Mannschaften, für unter Dreißigjährige und über Vierzigjährige, für Männer, Frauen und gemischte Teams. Pier 40 ist einer von mehreren Orten in New York, an denen Spiele von Metrosoccer NY ausgetragen werden. Im Laufe des Gesprächs bekommt Miller eine Nachricht: die Ergebnisse der Spiele auf dem Metrosoccer-Feld in Chinatown.
Miller sagt, 2000 Spieler seien bei seiner Organisation registriert – und dass es neben Metrosoccer NY Mitbewerber gebe, die ebenfalls den Spielbetrieb für Freizeitfußballer organisieren würden. „New York ist auf jeden Fall eine Fußballstadt“, ist Miller überzeugt.
Kaum ein Ort auf der Welt steht für so viele Dinge zugleich: New York ist die Stadt der Museen, der Theater, der Banken, der Mode. New York ist die Stadt der Wolkenkratzer und der Leuchtreklame. Die Stadt der Weihnachtskomödien und der gelben Taxis. Die Stadt Donald Trumps und der UN. Die Stadt der Cream-Cheese-Bagel (auch vegan!) und der Ratten. Die Stadt des Baseballs, des Basketballs, des American Footballs, des Eishockeys.
An diesem Sonntag findet auf der anderen Seite des Hudson River – im MetLife Stadium in East Rutherford, New Jersey – das Finale der Klub-WM statt. 2026 wird dort das Endspiel der WM für Nationalmannschaften ausgetragen. New York ist gerade also auch Welthauptstadt des Fußballs. Aber ist die größte und internationalste Stadt der fußballskeptischen USA wirklich eine „soccer city“, wie Miller am Pier 40 sagt?
Kurze Antwort: auf jeden Fall. Längere Antwort: auf jeden Fall – aber man muss wissen, wo man suchen muss, um den Fußball zu finden. Und: Man muss unterscheiden zwischen Fußball, dem Zuschauersport, und Fußball, dem Sport, den man selbst ausübt.
Eine gute Adresse, um der Fußballstadt New York näherzukommen, sind Orte wie Pier 40. Miller sagt: „Die Leute in New York haben die Wahl zwischen vielen Sportarten. Aber Soccer ist eine der beliebtesten. Vielleicht sogar die Nummer eins.“ Er meint: Wenn es darum geht, selbst zu spielen. Als Hobby, mit Freunden nach der Arbeit. Als Zuschauersport hat Fußball in New York, wie im Rest der USA, noch Potenzial.
Mit der U-Bahn geht es in die Bronx, zum Stadion, in dem normalerweise die Yankees Baseball spielen. Ein prächtiger Bau, der schlecht besucht ist am Donnerstag der vergangenen Woche, beim Spiel des New York City FC gegen den Toronto FC. Der NYCFC, so die Kurzform des Klubnamens, ist einer von zwei New Yorker Vertretern in der nordamerikanischen Profiliga MLS. Der andere sind die New York Red Bulls.
Hinter den Red Bulls steckt der österreichische Brausekonzern, der NYCFC gehört der City Football Group aus Abu Dhabi, deren Flaggschiff Manchester City ist. Wie City spielt auch der NYCFC in himmelblauen Trikots, wie in der englischen Arena ist auch im Yankee Stadium an jeder Ecke das Logo von Etihad Airways zu sehen. Vor der Partie wird für den Etihad Park geworben, die neue Spielstätte des NYCFC – ein Fußballstadion in Queens, das 2027 eröffnet werden soll.

Eine Kulisse aus leeren Sitzen: Das Yankee Stadium, hier vor dem Spiel des New York City FC gegen den Toronto FC.
Quelle: IMAGO/Imagn Images
Die neue Heimat ist nötig, das Yankee Stadium ist zu groß für den NYCFC. Der rechteckige Fußballplatz ist in das Baseball-Feld hineingemalt. Von vielen Plätzen ist der Fußball-Rasen so weit entfernt, dass Ferngläser hilfreich wären.
Ein Besuch beim New York City FC ist sehr New York. Vor dem Spiel sind auf der Anzeigetafel Bilder aus allen fünf Stadtteilen zu sehen: das World Trade Center in Manhattan, die Brooklyn Bridge in Brooklyn und so weiter. Aus den Lautsprechern ertönt Hip-Hip über die Stadt, die nie schläft. Nach jedem Tor – der NYCFC schlägt Toronto 3:1 – steigt Dampf aus Zylindern auf, wie sie in Manhattan an jeder Ecke stehen, zur Entlüftung des unterirdischen Heizungssystems.
Die Kulisse im Yankee Stadium besteht überwiegend aus leeren Sitzen. Die Sportstätte bietet rund 47.000 Menschen Platz und ist - großzügig geschätzt - zu einem Fünftel gefüllt. Hinter einem der Tore ist ein Fanblock. Von dort weht 90 Minuten lang der Klang von Gesängen, Trommeln, Rasseln und Kuhglocken über den Rasen. Die akustische Untermalung erinnert an die Stimmung bei Spielen südamerikanischer Mannschaften. Nur eben mit weniger Wucht.
Die Ansagen im Yankee Stadium sind zweisprachig: Ein Stadionsprecher spricht auf Englisch, eine Stadionsprecherin auf Spanisch. Die Zuschauer sind eine bunte Mischung. Auch das: sehr New York. Nur sind sie eben nicht sehr viele. 14 Kilometer südlich der Spielstätte, am Pier 40, sagt Freizeitfußball-Organisator Keith Miller ein paar Tage später: „Alle Spieler hier würden sagen, dass sie den NYCFC oder Red Bulls unterstützen. Aber wenn man sie fragen würde, bei wie vielen Spielen sie in den vergangenen Jahren waren, sind es vielleicht zwei oder drei.“
Die Red Bulls spielen weit draußen, in New Jersey, der New York City FC in der Bronx, zumindest derzeit noch. Ob im neuen Stadion mehr Zuschauer kommen?
Wenn die Menschen in den USA Geld für Live-Sport ausgeben, bezahlen sie für Qualität, für das Beste vom Besten. Die New Yorker können zwischen den Yankees und den Mets im Baseball wählen, zwischen den Giants und den Jets im Football, zwischen den Knicks und den Brooklyn Nets im Basketball, zwischen den Rangers und den Islanders im Eishockey. Da können die MLS-Klubs der Stadt schwer mithalten.
Auf dem Bildschirm erscheint Michael Lewis, 73, zum Videogespräch. 1974 fing er als Sportreporter bei der Lokalzeitung an, dem „Rochester Democrat and Chronicle.“ Er berichtete über die typischen US-Sportarten.
Nach einem halben Jahr stand sein Chef vor ihm und fragte, ob er, Lewis, nicht künftig über diesen Sport aus Europa schreiben wolle, der jetzt in Rochester eine große Sache sei: über Soccer. Wollte er nicht. Aber was sollte er machen, in der Probezeit? „Nach sechs Monaten in meinem Job wurde ich befördert, um über einen Sport zu berichten, von dem ich keine Ahnung hatte“, erzählt Lewis.
Mittlerweile hat er von acht Fußball-Weltmeisterschaften der Männer und fünf der Frauen berichtet, er hat mehrere Fußballbücher geschrieben und betreibt eine Internetseite namens „Front Row Soccer“, auf der er über Fußball schreibt, über den New York City FC und die New York Red Bulls, aber auch über Amateur- und College-Fußball in der Metropole. Er sagt: „New York ist auf jeden Fall eine Fußballstadt. Aber sind wir eine große Fußballstadt?“ Schwierig.

Konsequente Vermischung von Fußball und Show: Franz Beckenbauer (l.) und Pelé im Jahr 1977 im Trikot von New York Cosmos.
Quelle: imago images/WEREK
Heute stehen Abu Dhabi und Red Bull hinter dem Profifußball in New York. Vor 50 Jahren wollte der Unterhaltungsriese Warner den Sport erobern, mit einem Klub, der zum Synonym geworden ist für die Vermischung von Fußball und Show: New York Cosmos. Der Klub holte den deutschen Weltmeister-Kapitän Franz Beckenbauer und den brasilianischen Weltmeister-Kapitän Carlos Alberto, er holte den Niederländer Johan Neeskens, und er holte den vielleicht größten Fußballer überhaupt: Pelé.
Wenn man Autor Lewis auf Cosmos anspricht, muss er sich sammeln. „Oh boy!“, sagt er: „Als ich über die Mannschaft berichtet habe, habe ich in jedem Spiel etwas Magisches erwartet. Man will im Fußball Dinge sehen, die man noch nie gesehen hat. Cosmos hat solche Dinge geliefert.“ Er spricht in der Vergangenheitsform, den Klub gibt es nicht mehr. Als 1985 die North American Soccer League unterging, ging Cosmos mit unter.
Zurück am Pier 40, das Empire State Building hat die Außenbeleuchtung angestellt, Matt Krantz, 36, mit seiner Mannschaft gewonnen. 6:2 oder 7:2, irgendwie so.

6:2? 7:2? Egal: Hobbyfußballer Matt Krantz.
Quelle: Hendrik Buchheister
Den Menschen, die hier spielen, geht es nicht um die Tordifferenz. „Fußball ist der beste Weg, um Leute kennenzulernen. Die Plätze hier sind super zu erreichen. Direkt um die Ecke ist die U-Bahn-Linie 1. Aus New Jersey ist man auch schnell hier. Einige der Mannschaften gibt es schon ewig. Die Leute hier wollen einfach jeden Tag spielen, den ganzen Tag.“ New York, sagt Krantz, sei nicht nur eine Fußballstadt, sondern „das Mekka des Fußballs in gewisser Weise“. In gewisser Weise: für Hobbyfußballer wie ihn. Nicht als Stadionsport.
Man muss in New York wissen, wo man suchen muss, um den Fußball zu finden. Und: Man sollte ihn an ungewöhnlichen Orten erwarten. Auf einem Schiffsanleger am Hudson River zum Beispiel.
rnd